Gerichtspsychiater, Neurologe und Buchautor aus Österreich
»Mit Schweigen kann man in anderen Menschen sehr viel auslösen: Gefühle des schlechten Gewissens, der Schuld, der Demut, des Nichts-wert-Seins«
Herr Professor Haller, wie kann ich früh erkennen, dass ich es mit einem ausgeprägten Narzissten zu tun habe?
Diese Menschen nehmen alles aus der Ich-Perspektive wahr. Von einer Autofahrt von Hamburg nach Hannover wird berichtet, als ob es sich um eine Expedition ins Herz von Afrika im 17. Jahrhundert handelt. Sie haben bezüglich ihrer eigenen Person so gut wie keine Reflektions- und Relativierungsfähigkeiten. Und sie verbreiten oft eine bestimmte Aura um sich. Man fühlt sich diesem Menschen gegenüber irgendwie schuldig, unterlegen und auf eine gewisse Weise verpflichtet. Das ist die Kraft, mit der Narzissten arbeiten.
Gleichzeitig sind sie enorm empfindlich und kränkbar, und das lassen sie einen spüren, zum Beispiel durch ostentatives Schweigen. Damit üben sie eine gigantische Macht aus. Mit Schweigen kann man in anderen Menschen sehr viel auslösen: Gefühle des schlechten Gewissens, der Schuld, der Demut, des Nichts-wert-Seins. Denn wenn sich ein Mensch auf diese Weise gekränkt zeigt, denkt man automatisch, etwas falsch gemacht zu haben. Man weiß zwar nicht was, aber irgendetwas muss ja gewesen sein. Viele Menschen, die mit Narzissten partnerschaftlich oder beruflich zu tun hatten, berichteten mir von permanenten Schuldgefühlen.
Das ganze Interview mit Reinhard Haller finden Sie in unserem Buch:
Zur Person
Reinhard Haller (Jg. 1951) ist ein österreichischer Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe. Der studierte Mediziner habilitierte 1994 in Psychiatrie an der Universität in Innsbruck. Schwerpunkt seiner Arbeit war zunächst die Suchtforschung. Als psychiatrischer Gerichtsgutachter beschäftigte er sich aber zunehmend mit dem Bösen im Menschen. Er verfasste unter anderem Gutachten über Tim K., der bei seinem Schulamoklauf in Winnenden 15 Menschen und sich selbst erschoss, sowie über den Serienmörder Jack Unterweger. Haller hat zahlreiche Bücher verfasst, unter anderem „Die Narzissmusfalle“ (ecowin) und aktuell „Das Wunder der Wertschätzung“
»Das Böse: Die Psychologie der menschlichen Destruktivität« (Ecowin Verlag)
Spektakuläre Verbrechen, abscheuliche Gräueltaten – der Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat sich auf die Suche nach den Wurzeln des Bösen begeben. Tausende Stunden saß er im Gefängnis Schwerstverbrechern gegenüber, nur mit Notizblock und Stift bewaffnet: Sexualmörder und Serienkiller, Terroristen, Räuber und junge Amokläufer. Sie alle erzählten von ihren Gefühlszuständen, von der Beziehung zum Opfer, ihrer Lebensgeschichte und ihrer heutigen Sicht auf das Verbrechen. Haller bekommt so Einblick in die dunklen Bereiche der Täterpsychen, wie sie nur wenigen Menschen gewährt wird. Er setzt unterschiedliche Theorien über das Böse in Bezug zu neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Biologie, Theologie, Genforschung und Psychiatrie. Das Buch ist eine Neuausgabe des Werkes »Das ganz normale Böse« aus dem Jahre 2009.